Ich hatte ja versprochen hier kurz darzulegen, womit ich mich die letzten Wochen gedanklich beschäftigt habe … ich schreibe seit 3 Wochen an dem Beitrag und muss ihn jetzt einfach mal rauschicken 🤦♀️. Tatsächlich gelingt es mir bisher noch nicht so richtig, das Konzept „unerzogen – so wie ich es verstehe“ darzulegen. Andererseits ist „unerzogen“ auch eher ein Modebegriff – meine Kollegin, die bei uns Pädagogik/Psychologie unterrichtet, nannte das was wir machen „Erziehung durch Einsicht “ und das ist für mich auch die treffendere Begrifflichkeit. Ich habe übrigens nach dem Brief von den anderen Müttern mit einigen meiner Kolleg*innen und mit etlichen Erzieherinnen geredet – und natürlich gibt es auch unter Pädagogen eine große Bandbreite von Erziehungsstilen. Auffällig ist, dass unter Fachleuten niemand versucht andere zu missionieren. Etwas, dass in Alltagsgesprächen ja doch manchmal vorkommt. So nach dem Motto: „So darf man das aber nicht machen!“. Dabei steht doch fest, jede Familie und jede Situation ist anders. Die folgende Ausführung sind also auch bitte nur als Inspiration zu verstehen!
Ich befinde mich noch immer in der Findung, was ich vom Unerzogen-Konzept im Alltag umsetzen kann – das stellt manchmal auch eine echte Belastungsprobe dar, auch mit dem Lieblingsmann, der zwar nicht „streng“ ist, aber doch erwartet, dass Ole spätestens nach der 3. liebevollen Aufforderung oder dem dritten Kompromissvorschlag „funktioniert“. Funktionieren bzw. Hören/Gehorsam sein sind aber nun mal eher Aspekte der klassischen Erziehung (Lob/Strafe)
Gut wird jetzt die ein oder andere denken. Wenn das eh nicht so richtig umsetzbar ist und wenn das auch noch zu Beziehungsstress führt, warum verdammt macht sie es dann? Die Antwort: weil sich die Alternative kacke anfühlt!!! Ja ich kann klassisch „streng“ oder nehmen wir den Modebegriff „konsequent“ erziehen. Ich kann das auch durchziehen. Ich bin schließlich vom Fach und habe das anfänglich auch beruflich so gehandhabt. Aber es gab immer wieder Schüler, meist sind es Jungs, deren Willen man nicht brechen konnte. Ja liebe Leser*innen- erziehen im klassischen Sinne heißt bisweilen Willen brechen. „Machtkämpfe“ führen etc. Ich habe schon Schüler wenige Tage vorm Abitur (fast) von der Schule werfen lassen, weil keiner von uns beiden nachgeben wollte… der Ausweg war dann, dass sie in meinem Unterricht krank machen, damit ich ihnen nicht noch einen Verweis für ihr Verhalten gebe. Jedenfalls habe ich vor etwa 5 Jahren langsam meinen Stil umgestellt und stellte überrascht fest, dass auch der kooperative Weg gut klappt und ich damit sogar eben solche Charaktere manchmal erreiche – wofür ich mir dann stets selbst auf die Schulter klopfe.
Tja und dann kamen die ersten „Machtkämpfe“ mit Ole und mein Kind erwies sich als stur, geradezu störrisch. Er lag teilweise ewig (teilweise über eine Stunde!) weinend, schluchzend im Flur oder sonst wo, weil ich mir vornahm „konsequent“ zu bleiben. Meine Schwiegermutter erzählte, dass der Lieblingsmann in dem Alter regelmäßig blau anlief, weil er so schrie und im Kindergarten mal fast umgefallen wäre. Ich erinnerte mich an die Stunden, die ich alleine auf meinem Zimmer verbracht habe, weil meinen Eltern mein „Geheule“ zu viel war. Ich erinnerte mich an das Gefühl von Einsamkeit und dass ich als Kind oft dachte, dass Eltern so nicht sein sollten. Ich erinnerte mich an den unbedingten Wunsch wieder geliebt werden zu wollen und daran, dass dies nur spürbar war, wenn ich „funktionierte“. Ich wuchs die ersten 3 Jahre bei meinen Großeltern auf und erlebte dort eine klassische 60er-Jahre Erziehung. Auch später war meiner Mutter BEZIEHUNG oft zu anstrengend und ich war sowieso schon auf Funktionalität gepolt. Heute kann ich genau sagen, inwiefern mir das geschadet hat und welche meiner Schwächen damit in Zusammenhang stehen. Wer behauptet, ein Kind irgendwo stehen zu lassen, weil es nicht mitkommt oder es zu erpressen schade nicht, der lügt sich einfach selbst in die Tasche. Sorry! Ja es wird nicht zwangsläufig zum emotionalen Krüppel, aber toll ist das definitiv auch nicht. Und so bleibe ich jetzt nicht mehr ganz so strikt bei meiner Haltung, sondern erkläre mehr, bleibe, wenn Ole es zulässt, in Beziehung bzw. offen, tröste und versuche einen Deal zu finden, der für beide Seiten passt. Und wenn man selbst nicht so erzogen wurde, ist es ehrlich gesagt sehr sehr anstrengend gegen sein inneres Programm anzukämpfen. Sollte das für euch also völlig normal sein so zugewandt zu bleiben, dann sagt euren Eltern mal Danke dafür. 😉 Ich frage mich in Konfliktsituationen manchmal ernsthaft, WARUM will ich das jetzt so? Und muss das wirklich genauso laufen, wie ich es will? Oft lautet die Antwort: nein, muss es nicht. Das heißt übrigens nicht, dass Ole jetzt alles darf! Ich praktiziere keine echtes „unerzogen“ bzw. laissez faire, sondern wie gesagt Erziehung durch Einsicht! Wir versuchen Ole sogut es geht alles zu erklären und setzen auf seine Kompromissbereitschaft. Das klappt mal gut und mal gar nicht… 😅 wie alles mit Kindern. 😉
Und dann kam zu meinem Wandel noch der Faktor Spielplatzerziehung hinzu. Im Beisein von anderen Müttern ahndete ich Fehlverhalten noch strenger. Tatsächlich hat sich hier so eine Erwartungshaltung entwickelt: Ein Kind benimmt sich daneben – dann muss man schon so erziehen, dass die Mütter drumherum es auch mitbekommen. Immer mehr verlor ich die Beziehung zu Ole und immer öfter fühlte ich mich schlecht, wenn ich schrie und nach Spieldates war ich fast ausgelaugt. Hinzu kam, dass mich das Gefühl beschlich, dass die anderen Müttern gern zunächst bei Ole den Fehler suchten, teilweise sogar ihn zurechtwiesen statt das Verhalten ihrer Kinder zu hinterfragen. Anfangs ging ich sogar noch auf ihre „Anschuldigungen“ ein, versuchte Ole noch besser im Griff zu haben, war bei Treffen unheimlich angespannt immer dazwischen zu gehen. Dann ging es soweit, dass eine Mutter regelmäßig sagte, Ole hätte ihrer Tochter im Kiga wehgetan, sie hätte zuhause geweint. Ole stellte es oft als normalen Streit dar oder wusste gar nichts davon. Ich fragte ihn täglich nach dem Kindergarten aus, ob etwas vorgefallen war… unsere Beziehung war im Eimer!
Zum Glück trat ich irgendwann einen Schritt zurück. Atmete durch, überlegte. Nachdem die Mutter wieder behauptete, ihre Tochter hätte wegen Ole geweint, an einem Tag, wo ich ihn früher geholt hatte und die Story ziemlich unwahrscheinlich klang, wendete ich mich an den Kindergarten. Das war etwa im März. Ich bat um ein Elterngespräch und hatte ein tolles Telefonat mit der Erzieherin. Sie erklärte mir, dass es sich bei allen „Vorfällen“ um stinknormale Streitigkeiten unter Dreijährigen handele, bei denen alle gleich stark sind und bei denen jeder mal anfängt. Also normale Gruppenprozesse und entwicklungskonform. Ich bat darum, dies auch der anderen Mutter zu sagen. Was auch geschah. Dennoch kamen von ihr regelmäßig Nachrichten mit Beschwerden. Ich sagte dann sehr deutlich, dass für mich die Sache seit dem Kindergartengespräch geklärt sei. Solange ich nichts vom Kindergarten höre, sind es für mich normale Streitereien und ich werde Ole nicht permanent nachmittags befragen oder voll quatschen bezüglich des Kindergartens. Besagte Mutter ist eine der Briefschreiberinnen.😉
Jedenfalls zog ich mich aus dem Mütterwahnsinn zurück. Mischte mich auf dem Spielplatz nur noch ein, wenn wirklich Gefahr im Verzug war. Auch hier hörte ich auf Ole anzuschreien, wenn er etwas falsch macht, nehme ich ihn ruhig zur Seite und erkläre, warum man sich so nicht verhalten darf, z.B. wenn du die Rutsche absperrst,dann tut sich vielleicht jemand weh oder wenn du die anderen ärgerst/schubst/mit Sand bewirfst usw. dann macht es ihnen keinen Spaß und dann wollen sie nicht mehr mit dir spielen. D.h. ich verbiete Sachen nicht per se, sondern erkläre ihm, was die (eventuellen) Folgen seiner Handlung sind. Und das mache ich so leise, dass es nicht alle mitbekommen. Und solange seine Spielpartner gleichaltrig oder älter sind, also weglaufen können oder Nein bzw. Stopp sagen können, sehe ich auch keine Notwendigkeit da sofort aufzuspringen.Wenn kleinere Kinder dabei sind, dann erinnere ich ihn meist daran, dass sie schwächer sind und er nimmt dann automatisch Rücksicht.
Ich gebe hier meinem Kind eine gewisse Freiheit und auch Selbstbestimmung. Ich baue darauf, dass er selbst erkennt, was der passende Weg ist. Dazu ist (m)ein Dreijähriger durchaus in der Lage! Noch deutlicher wird das vielleicht in Bezug auf sich selbst. Im Urlaub wollte er jetzt ganz oft keine Schuhe tragen. Wir haben zunächst neue Schuhe gekauft, weil wir dachten, dass die Alten drücken. Allerdings gab es dann noch immer Momente, wo er strümpfig/barfuß gehen wollte. Wer hier schon länger liest, weiß vielleicht noch, dass auch ich sehr ungern Strümpfe trage und daher vollstes Verständnis habe. 😉 Jedenfalls habe ich ihn dann einfach machen lassen, statt mich einer sinnlosen Auseinandersetzung hinzugeben. Manchmal pieksten ihn die Steine so schnell, dass er nach 2 Schritten freiwillig Schuhe forderte, einmal ging er 100 Meter ohne Schuhe über Split, einfach weil er es partout wollte! Ich schaute natürlich mit Argusaugen auf seinen Weg, aber ganz ehrlich, auch am Strand kann eine Scherbe liegen oder eine Biene in der Wiese… und ja, er hatte nach 2 Stunden ohne Schuhe bei 20 Grad kühle Füße, aber auch hier ist meine Angst vor einem Schnupfen nicht gerechtfertigt, um ihn in Schuhe zu zwingen – wie auch,ohne Gewalt?! Mein Mann trägt fast immer viel weniger Kleidung als ich und ihn nötige ich ja auch nicht eine Jacke/lange Hosen anzuziehen. Außerdem kann man Füße genauso lange wie Hände unbekleidet lassen. Ich hatte mal einen Schüler, der immer barfuß ging. Immer! Und einen Mitschüler (Lehrerkind), der immer kurze Hosen trug. Und täglich 4 Tafeln Schokolade aß. Er ist jetzt glaube ich Mathe oder IT Professor. 😅 Natürlich gucken manche Mamas etwas komisch, wenn man einen Dreijährigen fragt, ob er nun Schuhe haben möchte und sich mit einem Nein zufrieden gibt. Aber es ist eben tatsächlich keine rhetorische pädagogische Frage, sondern eine ernsthafte. Und ich akzeptiere dann auch eine ernsthafte Antwort.
Nichtsdestotrotz gibt es Situationen, wo ich „Gefahr im Verzug“ sehe. Z.B. wollte er mitten in der Großstadt ohne Schuhe laufen, das haben wir dann schon untersagt und ihn in den Wagen gesetzt bzw. getragen. Wenn es richtig kalt ist, erkläre ich ihm dann auch, dass de Schnupfen an kalten Füßen hochkriecht oder wenn er keine Zähneputzen will, zeige ich ihm nochmals das Video zu den PochPochMännchen (Es war einmal das Leben – der Mund)… und bisher kam dann immer die Einsicht. Aber ich putze nicht mehr mit Gewalt oder ziehe ihn gewaltsam an! Er kann seine Dilemma auch klar artikulieren: „Mama ich will nicht putzen, aber ich will auch keine Zahnschmerzen. “ Wir reden dann darüber, dass man sich in solch einer Situation eben entscheiden muss. Auch als Erwachsener. Wie viele erwachsene Frauen tragen zum Wetter unpassende Kleidung, nur weil sie das Outfit gut finden? Wie viele putzen keine Zähne, weil sie zu müde sind? usw. Man muss als Eltern keine Grenzen oder Konsequenzen erfinden. Das Leben setzt uns allen genug Grenzen- wir müssen sie unseren Kindern nur zeigen.
Keiner von uns verhält sich tolerant oder demokratisch, „weil xy sagt es sei gut“, sondern aus Einsicht, dass es gut ist! Und auch nur dann, wenn diese Einsicht wirklich verinnerlicht wurde. Wenn man also möchte, dass das Kind Körperhygiene oder Ernährung gut umsetzt, dann muss man es zur der Einsicht befähigen. Und dies kann man nur durch Erklärungen. Und auch ein Dreijähriger weiß, wenn ich Schnupfen habe, ist das doof. Also muss er das Dilemma: Ich möchte mich nicht anziehen, ich möchte aber auch keinen Schnupfen selbst lösen. Sicherlich ist im Alltag nicht immer Zeit für lange Erklärungen, aber je mehr das Kind gewohnt ist, dass es „einen guten Grund“ für die elterliche Empfehlung gibt, umso eher verzichtet es im Stress auch mal darauf. Und ja: Es gibt Situationen, da setzen wir uns nach dem dritten Versuch einfach durch, weil wir z.B. gerade Zeitdruck haben oder weil es sonst zu gefährlich wird. Aber wir versuchen diese Situationen wirklich gering zu halten. Wir versuchen „Wenn …, dann… “ Drohungen zu vermeiden. Wir versuchen nicht laut zu werden (für mich die schwierigste Übung).
Insgesamt finde ich die Haltung von „unerzogen“ einfach super und ich glaube in einer Aussteigervariante funktioniert sogar Ruths extreme Idee des kompletten Verzichts auf Erziehung. In unserem deutschen Alltag bleibt das wohl für viele utopisch, jedoch finde ich ihre Ideen trotzdem lohnenswert für die eigene Reflexion, weswegen ich euch einige Videos verlinke. Ich mag ihre philosophischen Gedanken und finde (als Ethiklehrerin) viele Ansatzpunkte für mich. Übrigens habe ich mich schon mal vor ca. 2 Jahren mit ihr und „unerzogen“ befasst und es für totalen Blödsinn gehalten…🤣 und hätte ich ein Kind mit weniger Willenskraft, wäre ich vielleicht auch bei der klassischen Erziehung geblieben. Wobei ich gerade diesen Aspekt interessant finde, nur weil das Kind nicht so offen aufbegehrt, heißt das ja nicht, dass diese klassische Erziehung ihm gut tut bzw. es nicht gut wäre, sein Selbstbewusstsein zu stärken.
Und für alle Neugierigen nun einfach ein paar Videos und Artikel zum drüber philosophieren…
Der Kompass – Kinder brauchen Konsequenzen? Dieses Video bzw. Diese Erklärung – Gerade was den Wertekonflinkt angeht, beschreibt sehr gut, was in mir vorging und was gelebte Ethik bedeutet. 😁
http://elternmorphose.de/wenn-du-in-die-pfuetze-springst-gehen-wir-nicht-auf-dem-spielplatz-warum-mit-konsequenzen-meistens-strafen-gemeint-sind/
Unerzogen – Miniandme
Mama nicht schreien 1
Mama nicht schreien 2
Der Kompass – Verantwortung